Leseprobe
Inhalt
Das, was wir heute „Kanada“ nennen – aus dem Blick seiner seit Jahrtausenden dort ansässigen Bewohner
Als der unkonventionelle Schweizer Historiker Manuel Menrath zum ersten Mal in die Gebiete im hohen Norden Kanadas reiste, die den Großteil des Jahres nur per Kleinflugzeug erreichbar sind, wusste er selbst noch nicht viel von der Kultur und Geschichte der dort lebenden Cree und Ojibwe. Das hatte Methode, denn er wollte sich von ihnen selbst erzählen lassen, wie sie die kanadische Geschichte sehen, was ihnen an ihrer Kultur wichtig ist, und erst danach mit dem Blick des Fachhistorikers Bücher und Quellen studieren. Zu Beginn wird er unerwartet zu einer Zeremonie eingeladen – und wenn auch die Wunden, die mehrere hundert Jahre Kolonial- und Begegnungsgeschichte verursacht haben, tief sind bei den Cree und Ojibwe und das Misstrauen gegenüber Fremden groß: mit dem neutralen Schweizer Menrath reden sie. Und er hört ihnen zu. Unter dem Nordlicht ist ein Protokoll facettenreicher Geschichten und Schicksale, das diejenigen zur Sprache kommen lässt, deren Stimmen jahrhundertelang ignoriert wurden. In ihren Reservatssiedlungen im hohen Norden des amerikanischen Kontinents zeigen die Menschen ihm, dem Wemistigosh, dem Holzbootmenschen – so werden Europäer in ihrer Sprache genannt – wie sie leben, arbeiten und feiern. So erfährt er den erschütternden Kontrast zwischen Perspektivlosigkeit und Armut in den Reservaten und der atemberaubenden Landschaft und dem kulturellen Reichtum.
Menrath geht mit seinen Gastgebern auf Jagd und lässt sich ihr Kartenmaterial erklären, auf dem nicht Restaurants, Tankstellen und Hotels eingezeichnet sind, sondern sorgfältig über Generationen hinweg tradiertes Wissen über Bibervorkommen, heilige Orte und Jagdrouten. Eine Art von Landvermessung, die unseren Gewohnheiten völlig fremd ist. Wie innig das Verhältnis zu Natur und Kultur ist, erläutern die Cree und Ojibwe auch am Konzept des Bimaadiziwin. Der harmonische Bezug zu Land und Ahnen ist Quelle für ein gutes Leben, das die physischen, emotionalen, mentalen und spirituellen Bestandteile des Menschen in Einklang bringt.
Umso verheerender wirkt dadurch der Eingriff der Weißen in ihr Leben und in ihr Land: etwa der rücksichtslose Abbau der reichen Bodenschätze in den Gebieten, die die Cree und Ojibwe seit Menschengedenken besiedeln – und von deren Erträgen sie viel zu wenig abbekommen, der aber ihre Lebensgrundlagen zerstört: das Grundwasser ist mit Quecksilber verseucht, viele Tiere sind vertrieben. Auch jetzt gibt es in vielen Gemeinden noch kein sauberes Trinkwasser, es herrscht massive Wohnungsnot und Armut – und das in einem der reichsten Länder der Erde.
Bei einer Deckenzeremonie wird Kolonialgeschichte aus der Perspektive der Indigenen am eigenen Leib erfahrbar. Durch die Zurückdrängung in Reservate, durch Seuchen, Unterernährung und perfide Mechanismen der Zwangsassimilation verkleinern sich Territorium und Bevölkerungszahl der indigenen Bevölkerung dramatisch. Mit unserem romantisierten Bild von Kanada, dem freundlich-gemäßigten Gesicht Nordamerikas, mit Eishockey, sattgrünen Wäldern, Poutine (oder Ahornsirup) und Bären, sind diese Erzählungen kaum in Einklang zu bringen.
Überlebende der St. Anne’s Indian Residential School, die als Kinder in diesem Internat zwangsassimiliert und misshandelt wurden, berichten von dem Grauen, das sie erlebt haben. Bis in die folgenden Generationen wirken die Traumata dieses besonders schlimmen Kapitels kanadischer Geschichte nach. Drogen- und Alkoholmissbrauch sind weit verbreitet. Die Selbstmordraten indigener Jugendlicher sind fünf bis siebenmal so hoch wie im Rest des Landes.
Andere Berichte machen Hoffnung. Starke Stimmen kämpfen für Gleichberechtigung, Bildung und Anerkennung und schöpfen dabei Kraft aus ihren uralten Traditionen. Die 14-jährige Kara Knapaysweet aus Fort Albany erzählt von ihrem Wunsch, Medizin zu studieren und die prekäre medizinische Versorgung in den Reservaten zu verbessern. Initiativen der Indigenen bemühen sich um die Vermittlung traditioneller Tänze und Riten. Insbesondere in Fort Albany, wo die St. Anne’s Indian Residential School beheimatet war, finden Menschen, die den Bezug zu ihrer traditionellen Spiritualität fast verloren hatten, Trost und Hilfe bei der Aufarbeitung.
Mit seinem Buch schafft Menrath den Perspektivwechsel. Er führte über hundert Interviews – in Unter dem Nordlicht kommen seine Gesprächspartner zu Wort. Vermittelt über die vielen Einzelstimmen und illustriert mit beeindruckenden Aufnahmen wird ein anderes, seit langer Zeit überfälliges Bild des Landes gezeichnet, das wir heute „Kanada“ nennen.
Stimmen zum Buch
»Dies ist ein wichtiges Buch, weil es unsere Stimmen enthält. Es ist gut, dass wir damit in Europa gehört werden. Denn unsere Geschichte wurde jahrhundertelang ignoriert.«
Stan Beardy, Grand Chief der Nishnawbe Aski Nation (2000-2012) und Chief von Ontario (2012-2015)
»Diese großartige Spurensuche in den entlegenen Cree- und Ojibwe-Reservaten Ontarios erzählt die Geschichte von Eroberung, Kolonisierung und fortdauernder Vernachlässigung aus indianischer Sicht – fundiert, überraschend und berührend zugleich.«
Aram Mattioli, Verfasser von »Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910«
»Der Frage nach der Literatur und Kultur der Indigenen Kanadas (…) widmet sich der Schweizer Manuel Menrath in seinem Buch, und was er damit abgeliefert hat, ist bemerkenswert und beispielhaft. (…) Die Geschichten über die Tiefen des indigenen Lebens runden bei Menrath den einfühlsamen Gesamtblick ab.«
Manfred Keiper, Lesart
»Detailliert dröselt Menrath die historische Entwicklung auf, die zu den heutigen Problemen geführt hat. (…) Insofern hat Manuel Menrath eine Geschichte der Gegenwart geschrieben.«
Katja Schönherr, NZZ am Sonntag
»Manuel Menrath ist mit «Unter dem Nordlicht» ein äusserst facettenreiches Sachbuch geglückt, das sich im Kern zwar auf die Geschichte der Indianer in Kanada konzentriert, aber eben auch sehr viel von zwischenmenschlichen Begegnungen, spirituellen Erfahrungen und einer atemberaubenden Natur erzählt.«
Stefan Welzel, Neue Luzerner Zeitung
»Oral History at its best. Denn der Autor, den sie bald Wemistigosh, den Holzbootmenschen nennen, nimmt sich wohltuend zurück und lässt jede Erzählung für sich stehen. Ein gelungener Einstieg in die Geschichte des Landes, das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist, ist so entstanden.«
Günther Wessel, Deutschlandfunk Kultur
»Das Buch ist eine behutsame Reise in die Geschichte und die Lebensrealität der First Nations, der Indianer im Norden Kanadas. Manuel Menrath ist Historiker, doch sein Text liest sich eher wie eine Reportage, ein Reise- und Begegnungsbericht.«
Shelly Kupferberg, rbb Kultur
»Was für ein Buch: Die Geschichte der Cree und Ojibwe in Ontario – stellvertretend für die indigenen Völker Kanadas und auch der USA – erzählt, faszinierend, berührend und ausserordentlich gut recherchiert. Weg von allen Klischees und romantisierenden Vorstellungen.«
Helena Nyberg, Magazinc, August 2020
Bibliographie
Manuel Menrath
Unter dem Nordlicht. Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land.
Galiani Berlin, 20. August 2020.
480 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
Mit farbigen Karten im Vor- und Nachsatz sowie 26 Abbildungen.
Autor
Manuel Menrath wurde in Luzern geboren. Er leitet das kulturhistorische Museum Haus zum Dolder in Beromünster und ist Lehrbeauftragter der Universität Luzern. Für sein Buch Mission Sitting Bull, das zugleich seine Dissertation war, wurde er mit dem Opus Primum Preis der VolkswagenStiftung ausgezeichnet. Nebenbei ist Menrath Angehöriger der Feuerwehr Stadt Luzern und präsidiert die Historische Gesellschaft Luzern. Regelmäßig zieht es ihn in die Welt hinaus. 1999 komponierte er das letzte Lied des Jahrtausends, das am 31. Dezember kurz vor Mitternacht vom lokalen Universitätschor in der samoanischen Hauptstadt Apia aufgeführt wurde – in dem Land, das zuletzt ins Jahr 2000 eintrat. Seit 2011 bereist Menrath regelmäßig das indianische Nordamerika, um mehr über die Geschichte und Kulturen der ersten Menschen dieses Kontinents zu erfahren.